Appell vom 26. Oktober 2016 -> Keine folgenreiche Diskriminierung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen!

an die Jahreskonferenz der Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder vom 26. bis 28. Oktober 2016 in Rostock zum Beschlussvorschlag aus Bayern (Stand 24.10.2016) zu TOP 2.2.: Standards und Kosten für UmA im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe

Keine folgenreiche Diskriminierung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen!
Die Forderung nach einer speziellen Leistungsart „Jugendwohnen“ für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sowie nach einem Vorrang von Angeboten der Jugendsozialarbeit bedeutet eine kinderrechtswidrige Diskriminierung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge (vgl Art. 22 Abs. 2 Satz 2 UN-Kinderrechtskonvention). Sie geht an den Bedarfen der Jugendlichen vorbei würde zu einer drastischen Standardabsenkung führen. Während für Kinder und Jugendliche, die in einem Heim untergebracht werden, ein Fachkraft-Kind-Schlüssel von maximal 1:4 (in der Regel deutlich darunter) gilt und Voraussetzung einer Betriebserlaubnis ist, liegt er beim Jugendwohnen im Rahmen der Jugendsozialarbeit zwischen 1:10 und 1:40. Jugendwohnen ist eine Leistung der Kinder- und Jugendhilfe, die Mobilität ermöglicht und einem erfolgreichen Schul- oder Ausbildungsabschluss dient; die Einrichtungen des Jugendwohnens stellen in der Regel keine Angebote zur Verselbstständigung junger Menschen mit einem erhöhten Betreuungsbedarf zur Verfügung. Der geforderte Vorrang schadet nicht nur, sondern ist auch überflüssig. Schon jetzt bietet das SGB VIII alle Differenzierungsmöglichkeiten.
Der Forderung scheint der Gedanke zugrunde zu liegen, die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge seien schon selbstständig und bräuchten daher weniger Begleitung. Hier wird die auf der Flucht erworbene „Überlebensselbstständigkeit“ und Resilienz mit der Selbstständigkeit verwechselt, die es braucht, um sich in Deutschland zu integrieren und eine Lebensperspektive zu erarbeiten. Auch zeigen sich Spätfolgen erlittener Traumata erst zeitversetzt, wenn Sicherheit und Ruhe für die jungen Menschen gegeben ist. Wenn die Kinder- und Jugendhilfe an dieser Stelle ihre Unterstützung zurückfährt, wäre das multiple Scheitern der für die Gesellschaft so wichtigen Integrationsanstrengungen vorprogrammiert.
Nicht nur in Einzelfällen würden unzureichende Hilfen die jetzt schon erhöhte Gefahr psychischer Belastung bis hin zu Suizidalität in dieser Gruppe in unverantwortlicher Weise steigern und zu einer Zunahme der Notfälle in der Kinder- und Jugendpsychiatrie führen. Eine solche Verlagerung ins Gesundheitswesen führt absehbar zu einer Kostensteigerung.

Die Forderung, die Kostenerstattung der Länder an die Kommunen für die Aufnahme, Unterbringung und Hilfen für junge Flüchtlinge von Rahmenverträgen der Länder mit kommunalen Spitzenverbänden abhängig zu machen, ist ebenso problematisch. Sie würde ein Parallelsystems für die „Sondergruppe“ unbegleitetete minderjährige Jugendliche, mit eigenen Vorgaben schaffen. Steuerung der Leistungen würde nicht mehr über Bedarfe und Hilfepläne, sondern über die Entgelt-Rahmenvereinbarung erfolgen. Außerdem wäre dies eine Verabschiedung – quasi durch die Hintertür – von einer einheitlichen Kinder- und Jugendhilfe. Bislang haben der Bund und viele Länder „Sonderregelungen“ strikt abgelehnt.
Kommunen würden mit ihrer Verantwortung allein gelassen. Mit den Rahmenvereinbarungen stünden Kommunen im Zweifel vor der Wahl, sich zwischen angemessenen Hilfen oder Kostenerstattung entscheiden zu müssen.


Kein Abbruch von Integration und Unterstützung mit 18!

Die Forderung, „gesetzlich sicherzustellen, dass sich die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe auf die Versorgung von Minderjährigen konzentrieren“, ist entschieden zurückzuweisen. Sie hätte gesamtgesellschaftlich erheblich negative Effekte, wäre volkswirtschaftlich kurzsichtig und mit Blick auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge hoch gefährlich. Die Realisierung der bayerischen Forderung würde die Spaltung der Gesellschaft befördern, statt ihr entgegenzutreten. Kurzfristige Einsparungen zu Beginn der Hilfe würden langfristig zu Mehrkosten aufgrund von erschwerter Teilhabe und einer Dauerbelastung der sozialen Sicherungssysteme führen.
Junge Menschen werden bei einem Aufwachsen im Elternhaus bis Mitte zwanzig in vielfältiger Weise unterstützt. Jugendliche, die in Heimen und Pflegefamilien leben, haben regelmäßig eine belastete Kindheit hinter sich. Ausgerechnet jungen Menschen aus den Erziehungshilfen mit dem 18. Geburtstag die Übergangsunterstützung durch die Kinder- und Jugendhilfe zu verweigern und ein frühzeitiges Erwachsenwerden – bei wesentlich weniger materiellen und immateriellen Ressourcen – zu erwarten, würde die vorherigen Bemühungen konterkarieren, mit denen sie auf dem Weg zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit und Lebensführung unterstützt wurden. Das Ziel einer Verselbstständigung ist – vor allem beim Adressat/inn/enkreis der Kinder- und Jugendhilfe – mit der Volljährigkeit regelmäßig nicht erreicht. Seine Verwirklichung braucht gerade in der Phase des jungen Erwachsenendaseins fortgesetzte Unterstützung durch Hilfen nach dem SGB VIII.
Eine Altersgrenze mit 18 würde in besonderer Weise Mädchen und junge Frauen benachteiligen. Die Statistiken zeigen, dass viele Mädchen und junge Frauen vergleichsweise relativ spät den Sprung aus problematischen Familienverhältnissen in die Jugendhilfe schaffen. Den Erst- und Fortsetzungshilfen für junge Volljährige nach SGB VIII kommt daher auch eine besondere geschlechtsbezogene Bedeutung zu.
Besonders dramatisch wäre auch, wenn unbegleitete minderjährige Flüchtlinge mitten im Prozess der Integration noch früher und noch schneller aus der Jugendhilfe gedrängt würden. Das Entlassen in eine verfrühte, überfordernde „Selbstständigkeit“ und die Überantwortung in das Erwachsenensystem des Ausländer- und Asylrechts birgt vielfältige Gefahren für die jungen Menschen, nicht zuletzt eines Abbruchs von Schule und Ausbildung sowie Gefährdungen durch Ausbeutung oder Radikalisierung. Bisherige Integrationsbemühungen würden aufs Spiel gesetzt.

Gemeinsame Verantwortung für Schutzkonzepte in Flüchtlingsunterkünften!

Zu begrüßen ist die Forderung nach Schutzkonzepten in Erstaufnahme- und Gemeinschaftseinrichtungen, insbesondere für Frauen und Kinder. Mindeststandards dafür wurden erst kürzlich von Bundesfamilienministerium und UNICEF in Zusammenarbeit mit vielen Fachorganisationen erarbeitet und vorgelegt. Die Verantwortung zur Umsetzung dieser Standards liegt bei den zuständigen Ländern, Kreisen oder Kommunen, ggf. im Zusammenwirken mit den Trägern der Einrichtungen. Eine Delegation der Verantwortung an die jeweiligen Träger wirkt vordergründig, wenn nicht auch Grundlagen für notwendige Strukturen, Finanzierung und sonstige Ressourcen geschaffen werden. Die Bewältigung der gesellschaftlichen Herausforderungen bei der Flüchtlingsaufnahme erfordert Solidarität in Anerkennung einer gemeinsamen Verantwortung.
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